Abbruch einer Doppelhaushälfte nicht ohne weiteres zulässig
05.09.2023 – Wer Eigentümer einer Doppelhaushälfte ist, befindet sich mit dem Nachbarn, dem Eigentümer der anderen Doppelhaushälfte, in einer „Schicksalsgemeinschaft“. Das stellte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (VGH München, Beschluss vom 20.06.2023 – 2 ZB 22.231) fest.
Es kann dann nicht die bestehende Doppelhaushälfte abgerissen und stattdessen ein freistehendes Mehrfamilienhaus errichtet werden. Auch dann nicht, wenn die Abstandsgebote eingehalten werden.
Doppelhaushälfte soll zu freistehendem Einfamilienhaus werden
Einer Grundstückseigentümerin gefiel die Situation ihres Hauses nicht. Es handelte sich um ein sogenanntes Doppelhaus, das mit einem anderen Haus zusammenstand. Als Gesamtgebäude hatten diese einen seitlichen Grenzabstand, also einen Grenzabstand vor den äußeren Seitenwänden zu den jeweiligen Nachbarn. Die eine Eigentümerin wollte stattdessen ein freistehendes Mehrfamilienhaus errichten. Das sei kein Problem, dachte sie wohl; die Grenzabstände zur dann noch verbleibenden Doppelhaushälfte würden gewährt werden. Zwar stände danach das verbleibende Haus einseitig auf der Grenze zu ihrem Grundstück. Dagegen könne sie dann aber aus Gründen des Bestandsschutzes nicht vorgehen.
Bei der zuständigen Behörde stellte sie den Antrag auf die Erteilung einer Baugenehmigung für den Neubau eines freistehenden Mehrfamilienhauses, das anstelle ihrer bestehenden Doppelhaushälfte errichtet werden solle.
Die Behörde lehnte im November 2019 den Antrag ab
Die Eigentümerin zog vor das Verwaltungsgericht. Vergeblich. Das Gericht bestätigte die Bedenken der Behörde.
Doch die Eigentümer gab nicht auf. Sie beantragte beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof die Zulassung der Berufung. Nein, das Urteil der ersten Instanz sei richtig, entschied das Gericht. Das geplante Bauvorhaben nehme nämlich nicht Rücksicht auf die Situation des mit seiner Doppelhaushälfte verbleibenden Grundstücksnachbarn. Aus dem Beschluss:
“Das Verwaltungsgericht hat seine ablehnende Entscheidung unter anderem tragend darauf gestützt, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Diese Auffassung teilt der Senat.
Die beiden Gebäude auf den Grundstücken W.straße 25 und 27 bilden eine bauliche Einheit. Es wurden hier zwei Gebäudehälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebaut […], so dass sie einen Gesamtbaukörper bilden und sich das Gesamtgebäude als bauliche Einheit darstellt. Es handelt sich daher vorliegend – dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig – um ein sog. Doppelhaus […], wonach in der offenen Bauweise die Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet werden. Nur als Gesamtgebäude hat dieses einen „seitlichen Grenzabstand“, also einen Grenzabstand vor den äußeren Seitenwänden […]
Um das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben, ein freistehendes Mehrfamilienhaus, verwirklichen zu können, muss die auf dem Grundstück W.straße 27 errichtete Gebäudehälfte abgerissen werden. Die Gebäudehälfte auf der W.straße 25 stünde danach einseitig auf der Grundstücksgrenze. Eine solche einseitige Aufhebung des Doppelhauses verstößt gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann grundsätzlich vorliegen, wenn ein Vorhaben zwar in jeder Hinsicht den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen wahrt, sich aber gleichwohl in seine Umgebung nicht einfügt, weil das Vorhaben es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige, also vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt […]
Nach der auch vom Erstgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff des Doppelhauses […] werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht. Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, „erkauft“ […]. Diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundeigentümer zugleich begünstigt und belastet, begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis und legt dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung dergestalt auf, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf […]
So liegt der Fall hier: Durch das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben, das nicht an der Grenze, sondern unter Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächen errichtet werden soll, hebt die Bauherrin einseitig die zwischen den benachbarten Grundstückseigentümern begründete Schicksalsgemeinschaft auf. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht hierzu ausgeführt, dass das nachbarliche Austauschverhältnis durch die vorgesehene einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft in einem Maße aus dem Gleichgewicht gebracht werden würde, das deutlich über das hinausgeht, was ein nicht auf die andere Haushälfte abgestimmter Anbau mit sich bringe. Der Nachbar, der hierdurch in seiner Rechtsstellung erheblich betroffen werde, bedürfe des Schutzes gegen eine einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft und könne nicht darauf verwiesen werden, er könne (auch) ein freistehendes Gebäude unter Wahrung der gesetzlichen Abstandsflächen errichten.“
Uninteressant, was in der Umgebung ist
Es half ihr auch nicht der Einwand, in der Umgebung gäbe es schon eine Bauweise, die dem ähneln würde, was ihr mit dem Neubau vorschwebe: eine halb offene. Noch einmal aus der Entscheidung:
“Soweit sie argumentiert, dass in der näheren Umgebung zumindest auch eine halboffene Bauweise vorherrsche und daher – anders als bei einer offenen Bauweise – der Abbruch einer Gebäudehälfte keinen einseitigen Ausbruch aus der Schicksalsgemeinschaft darstelle, weswegen auch die Zustimmung des grenzständigen Nachbarn hierzu nicht erforderlich sei, überzeugt dies nicht. Das Rücksichtnahmegebot in seiner besonderen Ausprägung bei Doppelhäusern oder Hausgruppen greift im hier zu entscheidenden Fall unabhängig von der ansonsten im Quartier möglicherweise auch vorhandenen Bauweise allein bereits deshalb ein, weil es sich bei dem Altbestand auf dem Baugrundstück unstreitig um einen Teil eines Doppelhauses handelt.“
Die Entscheidung ist rechtskräftig.
Sie ist zum bayerischen Baurecht ergangen. Sie lässt sich aber auf die Baurechtssituation in anderen Bundesländern übertragen.
Siehe auch:
[Zum Bau-News-Beitrag vom 13.09.2016: Wenn der Nachbar sein Haus auf die Grundstücksgrenze setzt]