Baufirma warnte nicht vor Gefahrenquelle – 1,8 Millionen Schadensersatz

11.05.2021 – Wer eine Gefahrenquelle schafft, muss sie sichern oder davor warnen. Darüber haben wir schon häufiger in unserem Bau-News-Blog berichtet. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG Brandenburg, Urteil vom 18.03.2020 – 7 U 127/18) hatte einen Fall zu entscheiden, bei dem vor der Gefahrenquelle nicht gewarnt und gesichert wurde. 1,8 Millionen Euro muss eine Baufirma – wahrscheinlicher wohl die hinter ihr stehende Haftpflichtversicherung – zahlen.

Und das ist noch lange nicht alles.


Ein allzu provisorisches Treppengeländer

Auf einer Baustelle im Land Brandenburg haperte es. Der zuvor tätig gewesene Unternehmer hatte sie bereits mehrere Monate stilllegen lassen. Nunmehr übernahm im November 2013 eine neue Firma die Arbeiten.

Im Hof des Mehrfamilienhauses sollte eine Kellertreppe errichtet werden. Außerdem sollte eine von der Hoffläche außen am Gebäude nach oben zu zwei Wohnungen führende Treppe erneuert werden. Auf der einen Seite führte diese Treppe an der Hauswand lang nach oben. An der anderen Seite gab es zuerst die Hoffläche und direkt anschließend eine Grube, die wohl mit dem Keller in Verbindung stand. Jedenfalls lag sie 1,7 m tiefer als die Hoffläche.

Zwei Tage, bevor sich die Tragödie ereignete, über die wir hier berichten werden, hatte die neue Baufirma die Arbeiten übernommen. Zu diesem Zeitpunkt wies die nach oben führende Treppe auf der Seite zur Grube nicht einmal ein Treppengeländer auf. Am ersten Tag der Arbeiten schraubte die Baufirma ein provisorisches Geländer an. Danach stemmte sie den Belag der Treppenstufen weg, so dass deren Oberfläche eine "Berg- und Talbahn" geworden war.


Vom Hals abwärts gelähmt

Am nächsten Tag geschah es. Eine 72-jährige Hausbewohnerin, übergewichtig, ging in Hausschuhen die Treppe nach oben. In einer der oben gelegenen Wohnungen hatte nämlich der Paketzusteller bei einem Mieter ein Paket für sie hinterlegt. Die Hausbewohnerin nahm das Paket in beide Hände und ging wieder nach unten. Beim Heruntergehen geriet sie ins Straucheln. Das Geländer war mehr als provisorisch angebracht. Es hielt nicht, dessen obere Verankerung löste sich teilweise und die untere Verankerung vollständig. Die Mieterin stürzte in die Grube. Sie zog sich dabei eine Verletzung zu, die man sich kaum schwerer vorstellen kann: einen Bruch der Wirbelsäule infolge dessen sie seitdem vom Hals abwärts gelähmt ist. Nichts kann sie mehr alleine machen. Sie ist Tag und Nacht auf Pflege angewiesen. Entsprechend hoch waren die Kosten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Ein Ende der Kosten ist nicht abzusehen.

Die Baufirma wurde von der Kranken- und gesetzlichen Pflegeversicherung in Regress genommen. Die ersten 1,8 Millionen wurden als Aufwandsersatz gefordert.


Baufirma sah keine Schuld

Die Baufirma – oder die hinter ihr stehende Haftpflichtversicherung – sah keine Schuld. Wer übergewichtig ist und in Hausschuhen eine Treppe hochgeht, sei es selber schuld, so die Argumentation. Außerdem hätte die Frau ja wissen müssen, dass an der Treppe gearbeitet wurde.

Es kam zum Prozess. In der ersten Instanz, vor dem Landgericht Brandenburg, lief es nicht gut für die Baufirma. Sie wurde verurteilt. Doch man gab nicht auf und legte Berufung ein, zum Brandenburgischen Oberlandesgericht. Vergeblich. Dort bestätigte man die erstinstanzliche Entscheidung. Eine Verkehrssicherheitspflicht sei verletzt. Nicht etwa, weil die Treppe nicht sicher und bauordnungsgemäß war – das könne man während der Bauarbeiten nicht erwarten. Aber es hätte nachdrücklich auf die Gefahr hingewiesen werden müssen.

Aus dem Urteil:

“Der Beklagte schuldete zur Verkehrssicherung nicht eine sichere und bauordnungsgemäß eingerichtete Treppe […] Der Beklagte hatte seine Arbeiten aber erst zwei Tage vor dem Unfall begonnen. Er schuldete nicht ein fertiges, bauordnungsgemäß errichtetes Werk, sondern eine ordentlich gesicherte Baustelle, in der Gefahrenzonen abgegrenzt oder durch Warnzeichen gekennzeichnet sind, damit Gefahren nicht entstehen […]

Diese Pflicht hat er vernachlässigt. Er hat die Gefährlichkeit der Baustelle durch seine Arbeiten erhöht. Er hat den Bodenbelag der Stufen weggestemmt. Zum einen hat er damit eine neue Lage für diejenigen geschaffen, die die von seinem Vorgänger vernachlässigte, seit Monaten stilliegende Baustelle kannten. Auf die Gewohnheit der Hausbewohner beim Begehen der ungesicherten Treppe und des ungesicherten Grubenrandes kann der Beklagte nicht verweisen. Die Stufen waren nun anders beschaffen als zuvor, und sie entsprachen nicht einer fertiggestellten Treppe. Der Beklagte kann nicht darauf verweisen, das Abstemmen habe den Belag "griffiger" werden lassen. Die Stufen waren nicht eben und "griffig" im Sinne von rutschsicher, sondern - die Bilder […] zeigen es deutlich - die Stufen wiesen Unebenheiten auf, und es bedarf keiner Beweisaufnahme, um festzustellen, dass schon kleine Unebenheiten dazu beitragen können, einen Menschen ins Straucheln oder Stolpern zu bringen.

Diese Unebenheit hätte der Beklagte entweder durch irgendwelche geeigneten Provisorien beheben müssen, oder er hätte deutlich davor warnen müssen, dass der Treppenbelag nun uneben und anders beschaffen ist, als in den Monaten zuvor. Er hätte ein Schild aufstellen oder ein warnfarbenes sogenanntes Flatterband in Bodennähe spannen oder aufbringen müssen, um die Aufmerksamkeit auf die Stufen und ihre Unebenheiten zu lenken.

Auf welcher Stufe auch immer die Versicherte sich befunden hat: der Anschein spricht dafür, dass sie wegen der Unebenheit, vor der der Beklagte nicht gewarnt hat, zu Fall gekommen ist, weil sie beim […] Umdrehen in die von ihr beabsichtigte Gehrichtung über ein solche Unebenheit gestolpert ist oder mit dem Schuh einen plötzlichen Widerstand erfahren hat.“

Und dann war auch noch das zu provisorisch angebrachte Geländer. Noch einmal aus der Entscheidung:

“Ein weiterer Anschein spricht dafür, dass die Versicherte dann wegen des unzureichend angebrachten Geländers in die Grube gestürzt ist. Es kann dahinstehen, ob die unfertige Treppe durch ein Geländer gesichert werden musste. Aber wenn ein Geländer angebracht ist, muss es die Sicherheit gewährleisten, die es vorgibt. Eine Treppe ohne Geländer mahnt den Passanten zu besonderer Vorsicht. Ein Geländer gibt ihm vor, er könne sich festhalten, und dieses Vertrauen muss das Geländer rechtfertigen, wenn es darauf ankommt. Wer ein Geländer an einer Baustelle installiert, muss es so installieren, dass es hält. Ein Geländer darf nicht so beschaffen sein, dass es sich in seinen Befestigungen bewegt. Es muss unverrückbar fest installiert sein. Diese Anforderungen hat der Beklagte ganz offensichtlich nicht erfüllt. Die Bilder […] zeigen, dass sich die obere Verankerung des Geländers teilweise gelöst hat und dass die untere Verankerung vollständig herausgebrochen ist.“


Hausschuhe sind kein Mitverschulden

Auch das Argument, die Mieterin träfe ein Mitverschulden, weil sie mit Hausschuhen nach oben gegangen war, überzeugte das Gericht nicht:

“Mitverschulden trifft die Versicherte nicht. […] Es mag noch angehen, dass man sich mit Hausschuhen nicht auf grob abgestemmte, unebene Treppenstufen begeben sollte. Aber die beiden zu Lasten des Beklagten indizierten Kausalzusammenhänge wären dadurch nicht einer Mitwirkung der Versicherten ausgesetzt. Der Beklagte hat sie nicht vor der neuen, ungewohnten Herrichtung der Stufen gewarnt, und ein festes Geländer soll gerade dazu dienen, die aufzuhalten, die - auch aus eigener Unachtsamkeit - auf der Treppe ins Straucheln geraten. Wer gerade und sicher eine Treppe hinauf- oder hinuntergeht, benötigt kein Geländer. Es dient gerade denjenigen, die beim Gehen unsicher sind, und auch denjenigen, die aus eigenem Verschulden ins Stolpern geraten. Selbst wenn die Versicherte durch ungeeignetes Schuhwerk ihr Stolpern auf der Treppe selbst verschuldet hätte, so träfe sie am Sturz von der Treppe in die Grube kein Verschulden, und erst dort ist die Verletzung entstanden.“


Es wird noch teurer werden

Für die Baufirma oder ihre Haftpflichtversicherung ist mit diesem Urteil noch nicht über den letzten Cent entschieden. Das Gericht verurteilte sie, auch die zukünftig entstehenden Kosten zu tragen. Und dann steht natürlich noch die Frage eine Schmerzensgeldanspruches der Mieterin im Raum. Bei derartigen Verletzungen dürfte er sechsstellig sein.


Nicht an der Haftpflichtversicherung sparen

Baufirmen können aus dieser Entscheidung zwei Lehren ziehen:

Zum einem kann man gar nicht deutlich genug vor Gefahrenquellen warnen, die im Verantwortungsbereich der Baufirma liegen. Lieber ein Flatterband und ein Warnzeichen zu viel aufgestellt, als eines zu wenig.

Und die zweite Lehre: An der Haftpflichtversicherung darf man nicht sparen. Sie muss derartige Millionenschäden abdecken können. Sonst ist ein solches Unfallereignis auch der Ruin der Baufirma.




Schon in früheren Bau-News-Beiträgen hatten wir rund um die Verkehrssiche-rungspflichten informiert:

[Zum Bau-News-Beitrag vom 19.05.2012: Bauherr stürzt vom Gerüst – nicht immer haftet die Baufirma]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 03.12.2013: Kein Schmerzensgeld nach Sturz – Baufirma muss Bauherrn auf Baustelle nicht vor sich selber schützen]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 17.04.2014: Von oben in den Keller gestürzt – Keine Haftung der Baufirma, wenn Bauherr auf ungewöhnlichem Weg in den Bau gelangte]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 17.04.2014: Ein Bauherr muss Fachleute nicht auf Sicherungsmaßnahmen hinweisen]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 30.05.2014 - Gerichtsurteil: Heimwerker muss wissen, dass er Sicherheitsar-beitsschuhe tragen muss]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 29.09.2014 - Landgericht Coburg: wer eine ausgehängte Tür ver-schiebt, ist nicht schutzbedürftig]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 25.01.2017: Kein Schadenser-satz wenn Baustelle aufgeräumt ist]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 17.10.2017: Baufirma stellt Bauzaun auf – und haftet erst einmal bei dessen Einsturz]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 17.05.2019: Wer bei Ende von Bauarbeiten die Baustelle in unsicherem Zustand verlässt, haftet weiter]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 06.08.2019: Fallgrube hinter Notausgang – das kann teuer werden]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 20.04.2021: Negativer Lottogewinn – Bauherr ohne Bauherrenhaftpflicht riskiert, ein Leben lang zu zahlen]