Rückschnitt überragender Äste (manchmal) möglich - auch wenn Baum dann stirbt

23.07.2021 – Nicht jeder liebt Bäume. Vor allem dann nicht, wenn Äste, von denen Laub, Nadeln oder Zapfen herabfallen können, auf das eigene Grundstück ragen. Kann man dann zur Selbsthilfe greifen? Mit Sägen jeder Art und Güte? Unter Umständen ja, sagt § 910 Abs. 1 BGB. Aber was dann, wenn der Überhang so erheblich ist, dass durch dessen Beseitigung der Baum absterben kann oder seine Standfestigkeit zu verlieren droht?

Auch dann ist das Selbsthilferecht nicht ausgeschlossen, entschied der Bundesgerichtshof (BGH, Urteil vom 11.06.2021 – V ZR 234/19).

Es gibt dann aber dennoch eine Ausnahme: wenn aus naturschutzrechtlichen Gründen der Baum unter dem Schutz einer Baumschutzverordnung steht.


Kiefer gegen empörten Nachbarn

Im Nordosten Berlins stritten sich zwei Eigentümer benachbarter Grundstücke. Auf dem einem Grundstück steht unmittelbar an der gemeinsamen Grenze seit rund 40 Jahre eine inzwischen etwa 15 m hohe Schwarzkiefer. Ihre Äste, von denen Nadeln und Zapfen herabfallen, rangen seit mindestens 20 Jahren auf das Grundstück des anderen Eigentümers hinüber. Irgendwann gefiel ihm der Zustand nicht mehr. Nachdem er erfolglos aufgefordert hatte, die Äste der Kiefer zurückzuschneiden, schritt selber zur Tat. Er schnitt die überhängen Zweige selbst ab.

Die Empörung des Grundstückseigentümers, bei dem die Kiefer stand, war groß. Er verlangte von dem anderen Grundstückseigentümer, es zu unterlassen, von der Kiefer oberhalb von 5 m überhängende Zweige abzuschneiden.


Man einigte sich nicht

So kam es zum Prozess. Vor dem Amtsgericht Pankow/Weißensee war der Baumeigentümer erfolgreich. Auch vor dem Landgericht, bei dem die andere Seite Berufung eingelegt hatte.

Doch die gab nicht auf und legte Revision ein, zum Bundesgerichtshof.

Dort stand die Frage im Raum, ob nicht durch das Abschneiden der Äste der Baum absterben könnte. Zumindest aber seine Standfestigkeit verliert. Der Bundesgerichtshof ließ trotzdem ein Selbsthilferecht zu. Aus der Entscheidung:

“ Das Selbsthilferecht nach § 910 Abs. 1 BGB ist - vorbehaltlich naturschutzrechtlicher Beschränkungen eines Rückschnitts - nicht deshalb ausgeschlossen, weil durch die Beseitigung des Überhangs das Absterben des Baums oder der Verlust seiner Standfestigkeit droht.

Das Selbsthilferecht aus § 910 Abs. 1 BGB besteht im Ausgangspunkt ohne Einschränkungen, wenn seine tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Beschränkt ist es allein dadurch, dass dem Eigentümer das Recht nach Abs. 2 nicht zusteht, wenn die Wurzeln oder Zweige die Benutzung seines Grundstücks nicht beeinträchtigen. Eine Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung, mit der der Ausschluss des Selbsthilferechts teilweise begründet wird […], ist gesetzlich nicht vorgesehen und widerspräche den Vorstellungen des Gesetzgebers. Dieser hat sich bewusst für eine einfache und allgemein verständliche Ausgestaltung des Selbsthilferechts entschieden, die eine rasche Erledigung etwaiger Zwistigkeiten zwischen den Nachbarn ermöglicht.“


Kein Freibrief

Dieses Urteil gibt keinen Freibrief, nun mit Kettensägen und Co. vorzugehen. Auch überstehende Bäume können nämlich nach naturschutzrechtlichen Vorschriften geschützt sein. Dann muss eine Befreiung bei der Umweltbehörde beantragt werden, denn nur dann ist das Abschneiden der Äste zulässig. Anderenfalls drohen hohe Bußgelder. Noch einmal dazu aus der Entscheidung des Bundesgerichtshof:

“Das Berufungsgericht hat nicht geprüft, ob der auf dem Grundstück der Kläger stehende Baum nach den einschlägigen naturschutzrechtlichen Vorschriften, namentlich nach der Verordnung zum Schutze des Baumbestandes in Berlin […] geschützt ist. Zu diesem Punkt, der bislang aus Sicht des Berufungsgerichts keine Rolle gespielt hat, wird den Parteien Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag zu geben sein. Ergibt die anschließende Prüfung, dass das Abschneiden der Zweige nach der Baumschutzverordnung grundsätzlich verboten ist und eine Befreiungsmöglichkeit von dem Verbot nicht besteht, ist das Selbsthilferecht des Beklagten aus § 910 Abs. 1 Satz 2 BGB ausgeschlossen. Wird die Befreiungsmöglichkeit dagegen bejaht, hätten die Kläger das Abschneiden der Zweige unter der Voraussetzung zu dulden, dass eine Ausnahmegenehmigung erteilt wird, was in dem Tenor zum Ausdruck kommen müsste. Der Beklagte wäre dann befugt, selbst eine Ausnahme von dem baumschutzrechtlichen Verbot zu beantragen und im Streit darüber den Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten.“


Es geht weiter

Der Streit der beiden Nachbarn ist damit noch nicht beendet. Er wurde vom BGH an das Landgericht zurück gewiesen, wo er dann in die vierte Runde kommt.




In weiteren Beiträgen unseres Bau-News-Blog geht es rund um das Thema Bäume:

[Zum Bau-News-Beitrag vom 23.10.2011: Baumschaden – Gericht setzt auf bewährte Schadensberechnung]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 19.01.2012: Auch beim private Fällen von Bäumen schützt die Privathaftpflicht-Versicherung, entschied der Bundesgerichtshof]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 27.06.2012: Höherwertigere Bäume zu liefern als bestellt, kann ein Mangel sein]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 11.01.2013: Baum gefällt – muss vor Baumstumpf gewarnt werden?]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 28.02.2013: Bundesgerichtshof stellt klar, wie Baumschäden zu ersetzen sind: nach der "Methode Koch"]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 05.11.2013: Ein Privatmensch muss die Standsicherheit seiner Bäume nicht durch Fachleute prüfen lassen]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 24.03.2014: Bundesgerichtshof - eine absolute Sicherheit gibt es gegen abbrechende Äste nicht]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 09.11.2015: Bundesgerichtshof bestätigt: Nachbar muss hinnehmen, dass ein Baum Schatten wirft]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 25.11.2016: Ein Berg-Ahornbaum gehört nicht auf den Balkon]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 20.07.2017: Durchwurzelung von Abwasserleitung – Nachbar muss deswegen nicht den Baum fällen]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 26.01.2018: Für Laub von Nachbars Baum kann Geld verlangt werden - theoretisch jedenfalls]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 19.04.2018 - Auch wenn es im BGB steht: nicht immer darf man herüberragende Äste abschneiden]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 15.02.2019 - Wenn Baurecht besteht: Baumschutz kann zurück treten]

[Zum Bau-News-Beitrag vom 27.05.2020 - Nachbar kann nicht Beseitigung von ordnungsgemäß gepflanzten Birken verlangen]