Wer bei Ende von Bauarbeiten die Baustelle in unsicherem Zustand verlässt, haftet weiter
17.05.2019 – Unfälle auf Baustellen müssen nicht sein, wenn alle aufpassen und sich an die Regeln halten. Kommen aber trotzdem immer wieder vor. Häufig wegen der Verletzung von Verkehrssicherungspflichten.
Mit einem besonders bösen Unfall eines Handwerksmeisters musste sich das Oberlandesgericht Stuttgart (OLG Stuttgart, Urteil vom 13.12.2018 – 2 U 71/18) befassen. Er war in einem Rohbau durch eine nicht abgesicherte Aussparung auf den etwa fünf Meter tiefer liegenden Betonboden im Erdgeschoss gestürzt.
Das Rohbauunternehmen und dessen Bauleiter müssen deshalb zahlen. Als sie drei Monate vor dem Unfall gegangen waren, hatten sie die Baustelle in einem verkehrsunsicheren Zustand verlassen.
Selbständig gemacht - 7.500 EUR einkommen
Im Alter von 27 Jahren hatte sich im April 2008 ein Metallbaumeister und Schweißfachmann selbständig gemacht. Die Geschäfte liefen wohl gut. Es war später von monatlichen Einkünften in Höhe von 7.500 EUR die Rede.
Im Sommer 2008 führten ein Rohbauunternehmen und dessen Bauleiter Bauarbeiten auf einem Gewerbegrundstück im Schwarzwälder Raum durch. Ein neues Verladegebäude war zu errichten. Zum Auftragsumfang gehörte auch die Herstellung und Anbringung der Absturzsicherungen im Bereich der Bodenöffnungen in der Zwischendecke, die zum späteren Einbau von Verlademischern dienten. Anfang August 2008 war man fertig und verließ die Baustelle. Als nächstes kamen der Fensterbauer und der Treppenbauer.
Im November 2008 wurde der junge Handwerker tätig. Am Nachmittag half er, in dem Rohbau der Zwischendecke ein Geländer zu montieren. Dabei stürzte er durch eine der jedenfalls am Unfalltag nicht abgesicherten Aussparungen auf den etwa fünf Meter tieferliegenden Betonboden im Erdgeschoss. Die Verletzungen waren schwer. Der Handwerker leidet seitdem an einem Hirnschaden, der unter anderem dauerhafte deutliche Einschränkungen im Bereich der Aufmerksamkeit, der Konzentration, des Gedächtnisses und der Entscheidungsfindung zur Folge hat. Außerdem leidet er seitdem an Bewegungseinschränkungen und dauerhaften Kopfschmerzen.
Forderung: 85.000 EUR Schmerzensgeld, 145.000 EUR Verdienstausfall
Nach dem es ihm etwas besser ging, verlangte er Schmerzensgeld. Mindestens 85.000 EUR, außerdem 145.000 EUR als Verdienstausfall. Niemand sah sich verantwortlich, keiner zahlte. Auch nicht das Rohbauunternehmen und dessen Bauleiter. Beide, wahrscheinlich aber wohl die hinter ihnen stehende Haftpflichtversicherung, lehnten jegliche Zahlung ab.
Mittlerweile 30 Jahre alt geworden war der Handwerker, als er im Jahr 2011 vor Gericht zog. In der ersten Instanz, vor dem Landgericht Rottweil, ging es nicht gut aus für ihn. Das Gericht bezweifelt, dass am Unfalltag überhaupt noch eine Verkehrssicherungspflicht von Rohbauer und Bauleiter bestanden hätte. Im März 2018 wies es die Klage ab.
Doch der Handwerker gab nicht auf. Er legte Berufung ein, zum Oberlandesgericht Stuttgart. Dort sah man die Sache anders, als die Kollegen in Rottweil. Eine Verkehrssicherungspflicht habe sehr wohl bestanden, hieß es. Aus dem Urteil:
“Die Verkehrssicherungspflicht endet grundsätzlich mit dem ordnungsgemäßen Abschluss der Arbeiten; wer eine Baustelle verlässt, muss daher dafür sorgen, dass bestehende Gefahrenquellen hinreichend abgesichert werden […] Wird die Baustelle in verkehrsunsicherem Zustand verlassen, dauert die Verkehrssicherungspflicht fort.“
Und anders als die Rottweiler Kollegen hatte man auch keine Zweifel daran, dass Rohbauer und Bauleiter beim Verlassen der Baustelle keine Absturzsicherung eingebaut hatten, die von einem Unbekannten später klammheimlich entfernt worden sei. Noch einmal aus dem Urteil:
“Für das Fehlen der erforderlichen Absicherung spricht desweiteren, dass ausweislich der Schlussrechnung der Beklagten Ziff. 2 die Deckenschalung gleichzeitig als Absturzsicherung verwandt werden sollte und eine gesonderte Absturzsicherung nicht in Rechnung gestellt wurde. Daraus folgt, dass jedenfalls für die Zeit, in der die Deckenschalung angebracht war, keine gesonderte Absturzsicherung angebracht war, weil die durchgehende Schalung einen Absturz ohnehin verhindert hätte. Daraus folgt desweiteren, dass mit der Entfernung der Deckenschalung auch automatisch diese Absturzsicherung entfernt wurde. Dass danach eine gesonderte Absturzsicherung angebracht wurde, erscheint wenig wahrscheinlich, denn eine solche hätte die Beklagte Ziff. 2 vermutlich auch gesondert berechnet.“
Doch gänzlich schuldlos sah man den mittlerweile 37 Jahre alt gewordenen Handwerksmeister nicht. Auch er sei zu einem Drittel Schuld:
“Das Mitverschulden des Klägers ist mit einem Drittel zu bewerten. Auf der einen Seite waren die Aussparungen ohne weiteres erkennbar. Auf der anderen Seite ist es gerade die typische Gefahr solcher Aussparungen im Fußbodenbereich, dass einer der in der Umgebung beschäftigten Arbeiter im Zuge der Arbeiten irgendwann einmal diese Gefahrenquelle vergisst oder übersieht und hineinstürzt, wobei es u.a. auch von der jeweiligen Konzentration auf andere Arbeiten abhängt, wen es trifft. Der Haftungsanteil dessen, der die Gefahr verursacht hat, ist daher höher anzusetzen als der Mitverschuldensanteil desjenigen, bei dem sich die Gefahr letztlich verwirklicht.“
Prozess noch nicht beendet
Auch wenn schon die Jahre ins Land gegangen waren; der Prozess ist damit immer noch nicht beendet. Er geht noch einmal zurück an das Landgericht Rottweil, das sich nun damit beschäftigen muss, ob dem Handwerker ein Schmerzensgeld und ein Verdienstausfall auch in der Höhe zustehen, die er eingeklagt hatte.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart dürfte für den Rohbauer und seinem Bauleiter – oder wohl deren Haftpflichtversicherer – nicht überraschend gekommen sein. Sie entspricht der ständigen Rechtsprechung. Die Richter der Vorinstanz hatten diese offenbar nicht berücksichtigt.
Probleme mit den Verkehrssicherungspflichten auf Baustellen sind immer wieder ein Thema in unserem Bau-News-Blog:
[Zum Bau-News-Beitrag vom 19.05.2012: Bauherr stürzt vom Gerüst – nicht immer haftet die Baufirma]
[Zum Bau-News-Beitrag vom 25.01.2017: Kein Schadensersatz wenn Baustelle aufgeräumt ist]
[Zum Bau-News-Beitrag vom 06.08.2019: Fallgrube hinter Notausgang – das kann teuer werden]